32.

35.

Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.

36.

Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödienheld des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich als verwandt mit der entscheidenden und an sich wertvollen Seite des Daseins zu beweisen – wie es alle Metaphysiker tun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werte kardinale Werte sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest.

37.

Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus:

1. daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher verleumdet sind, so daß das Leben einen Fluch über sich hat;

2. daß die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben begreift und dem Leben sich entgegenwendet;

3. daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen Konflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere Art mißrät und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt, – daß andererseits das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, indigniert (– daß niemand ein Wozu? mehr beantworten kann –);

4. daß die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt, – daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens, der sogenannten „Zivilisation“, immer leichter wird, daß der einzelne angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.

38.

Welche Vorteile bot die christliche Moralhypothese?

1. Sie verlieh dem Menschen einen absoluten Wert, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens;

2. sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ, – eingerechnet jene „Freiheit“ – das Übel erschien voller Sinn;

3. sie setzte ein Wissen um absolute Werte beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntnis;

4. sie verhütete, daß der Mensch sich als Mensch verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel.

In summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.

39.

Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem gleichen Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des Menschen im Menschen erzeugt hat.

Jetzt ist alles durch und durch falsch, „Wort“, durcheinander, schwach oder überspannt:

a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus: „Gleichheit der Person“);

b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbstverleugnung, der Willensverneinung);

c) man versucht selbst das „Jenseits“ festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x; aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;

d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;

e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so, daß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch, typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);

f) die Verachtung der „Natürlichkeit“, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistlichkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehen;

g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den „christlichen Staat“, die „christliche Ehe“ –

40.

Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung – und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans. Wir konstatieren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Wert zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus – das, was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen – ergibt einen Auflösungsprozeß.

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