603.
Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem andern hinnehmen will, – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die „Wünschbarkeit“ der Mittelmäßigen ist das, was von uns andern bekämpft wird: das Ideal, gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt, daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatzcharakter des Daseins am stärksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung.... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, das heißt die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit....
Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschenentwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustandekommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl, bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hier und da der ganze Mensch entsteht, der Meilensteinmensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben zum Beispiel mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).
604.
Die „Reinigung des Geschmacks“ kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr: – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).
605.
Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.
606.
(Revue des deux mondes, 15. Februar 1887. Taine über Napoleon:) „Plötzlich entfaltet sich die faculté maîtresse: der Künstler, eingeschlossen in den Politiker, kommt heraus de sa gaine; er schafft dans l'idéal et l'impossible. Man erkennt ihn wieder als das, was er ist: der posthume Bruder des Dante und des Michelangelo: und in Wahrheit, in Hinsicht auf die festen Konturen seiner Vision, die Intensität, Kohärenz und innere Logik seines Traums, die Tiefe seiner Meditation, die übermenschliche Größe seiner Konzeption, ist er ihnen gleich et leur égal: son génie a la même taille et la même structure, il est un des trois sprits souverains de la renaissance italienne.“
Notabene – – Dante, Michelangelo, Napoleon.
607.
Einsicht, welche den „freien Geistern“ fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel, – la largeur de cœur, – das Experiment.
608.
Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: „auch mich schuf die ewige Liebe“, verstehen.