596.
Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens – das bringen die Künstler noch am besten zustande: wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem „interesselosen“ Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran zerbrechen. – Bisher waren fast immer Inspirationstäuschungen nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.
597.
Die Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung, gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen Menschen. – An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen ziehen aus dem Nachteile vieler: – das kann bei einem sehr hohen Grade von Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen und gerechten Empfindungen Herr wird.
598.
Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.
599.
Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit, – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, zum Beispiel die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühl gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht.
600.
Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: o wie gern möchten sie einmal von sich selber ausruhen! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie!.... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten.... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.
601.
Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltunwollen und „Gerechtigkeit“üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen, – können also nicht Größe haben.
602.
Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen „Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxusüberschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnittsmensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort „Übermensch“.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinktbescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen, – eine Art Stillstandsniveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschaftsgesamtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner „anzupassenden“ Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssigwerden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimalkräfte, Minimalwerte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung, – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseinsvorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form, zu sein, sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der „Nivellierten“, das Distanzgefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamtmaschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, deretwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamtverringerung, Wertverringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangsphänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamtverlust: der Mensch wird geringer: – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.