672.
Die Starken der Zukunft. – Was teils die Not, teils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.
Bis jetzt hatte die „Erziehung“ den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. „Werkzeuge“ für sie wollte man. Gesetzt, der Reichtum an Kraft wäre größer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen.
Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse.
Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können).
Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungsinteressen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten.
Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen.
Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herrenrasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf –, stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.
673.
Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung! – Je größer die Herrenkraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden.
Der „große Mensch“ ist groß durch den Freiheitsspielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß.
Der „gute Mensch“ ist auf jeder Stufe der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat, und wen man trotzdem nicht verachten darf.
Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zugunsten des Mittleren.
Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxuskultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein: – jede aristokratische Kultur tendiert dahin.
674.
Ein kleiner tüchtiger Bursch wird ironisch blicken, wenn man ihn fragt: „Willst du tugendhaft werden?“ – aber er macht die Augen auf, wenn man ihn fragt: „Willst du stärker werden als deine Kameraden?“
Wie wird man stärker? – Sich langsam entscheiden, und zähe festhalten an dem, was man entschieden hat. Alles andere folgt.
Die Plötzlichen und die Veränderlichen: die beiden Arten der Schwachen. Sich nicht mit ihnen verwechseln; die Distanz fühlen – beizeiten!
Vorsicht vor den Gutmütigen! Der Umgang mit ihnen erschlafft. Jeder Umgang ist gut, bei dem die Wehr und Waffen, die man in den Instinkten hat, geübt werden. Die ganze Erfindsamkeit darin, seine Willenskraft auf die Probe zu stellen.... Hier das Unterscheidende sehen, nicht im Wissen, Scharfsinn, Witz.
Man muß befehlen lernen, beizeiten, – ebensogut als gehorchen. Man muß Bescheidenheit, Takt in der Bescheidenheit lernen: nämlich auszeichnen, ehren, wo man bescheiden ist; ebenso mit Vertrauen – auszeichnen, ehren.
Was büßt man am schlimmsten? Seine Bescheidenheit; seinen eigensten Bedürfnissen kein Gehör geschenkt zu haben; sich verwechseln; sich niedrig nehmen; die Feinheit des Ohrs für seine Instinkte einbüßen; – dieser Mangel an Ehrerbietung gegen sich rächt sich durch jede Art von Einbuße: Gesundheit, Freundschaft, Wohlgefühl, Stolz, Heiterkeit, Freiheit, Festigkeit, Mut. Man vergibt sich später diesen Mangel an echtem Egoismus nie: man nimmt ihn als Einwand, als Zweifel an einem wirklichen ego.