563.
Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als „schädlich und unerlaubt“ fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung), ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.
564.
Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wieder gut machen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenügsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, das heißt in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehen. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist; daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und, näher besehen, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehen; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.
565.
Das Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über allem Verstehen ist.
566.
Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, das heißt nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.
567.
Wieviel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig „eigennützig“ ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt!
Man will nicht sein „Glück“; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.
568.
Die Erziehung zu jenen Herrschertugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchtertugenden („seinen Feinden vergeben“ ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Machtstellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.
569.
Der höhere Mensch und der Herdenmensch. Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– „und am Weibe auch nicht“ mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen als Parlamente und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.
Das „Tyrannisierende“ ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.
570.
Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.