Der „Idiot“ ist als das zweite der fünf großen Roman-Epen, die Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1868 vollendet worden. Das Werk steht damit in der zeitlichen Folge in Abständen von je etwa zwei Jahren zwischen „Rodion Raskolnikoff“ und den „Dämonen“.
Zu der doppelten Schreibweise der in dem Werk vorkommenden Namen Ganjä, beziehungsweise Ganjka und Warjä, beziehungsweise Warjka sei bemerkt, daß die erweiterte Form Ganjka und Warjka wie Alexaschka und Ssenjka etwas burschikos Herabsetzendes hat.
E. K. R.
Erster Teil
Es war zu Ende November, bei Tauwetter, als gegen neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg–Warschauer Bahn sich fauchend mit vollem Dampf Petersburg näherte. Es war so feucht und neblig, daß es kaum erst zu tagen schien. Aus den Kupeefenstern konnte man nur mit Mühe erkennen, was zehn Schritt vom Bahndamm rechts und links vorüberflog. Unter den Reisenden befanden sich auch solche, die offenbar weit herkamen, aus dem Auslande zurückkehrten, doch am stärksten waren die Abteile der dritten Klasse besetzt, und zwar von geringerem Volk und kleinen Geschäftsleuten, die während der Nacht in Städten, die nicht allzufern von Petersburg lagen, eingestiegen waren. Alle waren sie müde und abgespannt, allen waren die Augen über Nacht schwer geworden, alle froren, und die Gesichter waren gelblich bleich, von der Farbe des Nebels draußen.
In einem der Waggons dritter Klasse saßen am Fenster zwei Reisende sich gegenüber: beide junge Leute, beide fast ohne Gepäck und nicht gerade elegant gekleidet, mit ziemlich auffallenden Gesichtern. Sie schienen schließlich beide das Bedürfnis zu empfinden, ein Gespräch anzuknüpfen. Wenn sie von sich gewußt hätten, wodurch sie beide gerade in diesem Augenblick auffallend waren, so würden sie sich natürlich darüber gewundert haben, daß der Zufall sie so sonderbar in ein und denselben Waggon dritter Klasse der Petersburg–Warschauer Bahn einander gegenübergesetzt hatte.
Der eine von ihnen war nicht groß von Wuchs, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine graue, doch feurige Augen. Seine Nase war breit und platt, die Kiefer und Backenknochen stark entwickelt. Seine schmalen Lippen verzogen sich beständig zu einem halb frechen, halb spöttischen oder sogar boshaften Lächeln. Seine Stirn aber war hoch und wohlgeformt und verschönte die unedel entwickelte untere Hälfte seines Gesichts. Am auffallendsten war an diesem Gesicht die Leichenblässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes trotz seines festen Körperbaues etwas Entkräftetes, Krankhaftes verlieh und gleichzeitig etwas bis zur Qual Leidenschaftliches, das mit dem unverschämten, rohen Lächeln und seinem durchdringend scharfen, selbstzufriedenen Blick eigentlich gar nicht übereinstimmen wollte. Er war warm gekleidet, in einen weiten tuchüberzogenen Pelz von schwarzem Lammfell, und hatte es in der Nacht nicht kalt gehabt, während sein Reisegefährte gezwungen war, seinen Rücken von einer feuchtkalten russischen Novembernacht, auf die er sich offenbar nicht vorbereitet hatte, durchfrieren zu lassen. Er saß in einem weiten ärmellosen, zwar von dickem Stoff gefertigten, aber immerhin unwattierten Mantel mit einer sehr großen Kapuze, wie ihn Reisende im Winter dort irgendwo fern im Auslande, in der Schweiz oder in Oberitalien, zu tragen pflegen, natürlich ohne dabei auch mit solchen Abstechern rechnen zu müssen, wie von Eydtkuhnen nach Petersburg. Denn was in Italien vollkommen genügte, erwies sich natürlich in Rußland als wenig zweckmäßig. Der Besitzer dieses Kapuzenmantels war gleichfalls ein noch junger Mann von etwa sechs- oder siebenundzwanzig Jahren, etwas über mittelgroß, mit auffallend hellblondem, dichtem Haar, einem schmalen Gesicht, dessen Wangen eingefallen waren, und einem kleinen, fast weißblonden Spitzbart. Seine Augen waren groß und blau, und wenn er einen ansah, verwandte er nicht den Blick. Es lag eine eigentümliche Stille, gleichzeitig aber auch Schwere in diesem Blick: er war erfüllt von jenem eigenartigen Ausdruck, an dem manche Leute sofort den Fallsüchtigen erkennen. Übrigens war das Gesicht des jungen Mannes sehr angenehm, feingeschnitten und hager, nur etwas farblos, im Augenblick sogar ziemlich blaugefroren. An seiner Hand baumelte in einem alten verblichenen Kattunstoff ein armseliges Reisebündel, das wahrscheinlich seine ganze Habe enthielt. Seine Füße stecken in dicksohligen Schuhen, über die Gamaschen geknöpft waren – alles nicht nach russischer Art. Der Brünette im tuchüberzogenen Pelz hatte mittlerweile im dämmernden Morgenlicht schon alle diese Einzelheiten seines Gegenübers wahrgenommen und kritisch betrachtet, – zum Teil auch, weil er sonst nichts zu tun hatte – bis er dann schließlich mit jenem unzarten, gewissermaßen nachlässigen Spottlächeln, in dem sich mitunter so ungeniert das eigene Wohlbehagen beim Betrachten des Unglücks anderer ausdrückt, halb fragend bemerkte:
„Kalt. Nicht?“
Und er bewegte dabei die Schultern, als wenn ihn fröstelte.
„Sehr sogar,“ antwortete der andere mit auffallender Bereitwilligkeit, die Unterhaltung fortzusetzen. „Und dabei ist Tauwetter. Wenn wir noch Frost hätten! Ich dachte gar nicht, daß es bei uns so kalt sein würde. Jetzt bin ich daran nicht mehr gewöhnt.“
„Sie kommen aus dem Auslande?“
„Ja, aus der Schweiz.“
„Teufel! Seht mal an! ...“
Er lachte kurz auf und pfiff dann vor sich hin.
Die Fortsetzung des Gesprächs machte sich ganz von selbst; denn die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Reisegefährten zu antworten, war wirklich erstaunlich. Er schien auch nicht den geringsten Anstoß an der Unbekümmertheit zu nehmen, mit der der andere manch eine müßige Frage stellte. Unter anderem erzählte er auch, als Antwort auf eine dieser Fragen, daß er allerdings längere Zeit nicht in Rußland gewesen sei, mehr als vier Jahre nicht, und daß man ihn krankheitshalber – er sprach von einer sonderbaren Nervenkrankheit, ähnlich der Epilepsie oder dem Veitstanz, die in Krämpfen und Zitteranfällen auftrat – ins Ausland gebracht habe. Der Schwarzhaarige lächelte mehrmals auffallend spöttisch, während der andere erzählte, und er lachte laut auf, als jener auf seine Frage, ob er denn dort auch geheilt worden sei, ganz offen antwortete: „Nein, ich bin nicht geheilt worden.“
„Haha! Das kann ich mir denken, daß Sie Ihr Geld umsonst fortgeworfen haben! Und wir hier sind so dumm und glauben immer noch an jene Kerls!“ bemerkte er gehässig.
„Da haben Sie ein wahres Wort gesagt!“ mischte sich ein schlecht gekleideter Herr ein, der neben ihm saß. Er mochte etwas von der Art eines im Amtsschreibertum verknöcherten Beamten sein, vierzig Jahre zählen, war dabei stark gebaut, hatte eine rote Nase und ein finniges Gesicht. „Ein wahres Wort! Sie ziehen nur das ganze russische Geld zu sich hinüber, und wir haben das Nachsehen!“
„Oh, was meinen Fall betrifft, so irren Sie sich sehr!“ fiel ihm der in der Schweiz nicht geheilte Kranke mit seiner sympathischen, versöhnenden Stimme ins Wort. „Natürlich kann ich Ihnen nicht grundsätzlich widersprechen; denn so genau kenne ich die Verhältnisse nicht, um positiv etwas behaupten zu können. Mein Arzt jedoch hat mir von seinem letzten Gelde noch die Mittel zur Reise gegeben, und außerdem hat er mich dort fast zwei Jahre lang auf seine Rechnung unterhalten.“
„Hatten Sie denn sonst keinen, der für Sie bezahlt hätte?“ fragte der Schwarzhaarige.
„Nein. Herr Pawlischtscheff, der mich anfangs dort unterhielt, starb vor zwei Jahren. Ich schrieb darauf hierher, an die Generalin Jepantschin, eine entfernte Verwandte von mir, erhielt aber keine Antwort. Und so bin ich denn hergekommen.“
„Zu wem wollen Sie denn hier?“
„Sie meinen, wo ich absteigen werde? ... Ja, das weiß ich noch nicht, wirklich ... ich ...“
„Sie haben also noch nicht die Wahl getroffen?“
Und beide Zuhörer brachen von neuem in Lachen aus.
„Und dieses Bündel enthält natürlich Ihr ganzes Hab und Gut?“ fragte der Brünette.
„Darauf könnte ich wetten!“ griff sofort mit äußerst zufriedenem Schmunzeln der rotnasige Beamte die Bemerkung auf. „Und auch darauf, daß keine weiteren Koffer im Gepäckwagen sind, noch, daß ihm sonst was gehört, obgleich Armut keine Schande ist, was man wiederum nicht mit Stillschweigen übergehen darf.“
Es stellte sich heraus, daß es sich auch tatsächlich so verhielt, wie jener annahm: der blonde junge Mann gestand es ohne weiteres mit auffallender Offenherzigkeit ein.
„Ihr Bündel hat aber immerhin noch eine gewisse Bedeutung,“ fuhr der Beamte fort, nachdem sie sich satt gelacht hatten. (Merkwürdigerweise stimmte auch der Besitzer des Bündels beim Anblick der beiden Lachenden schließlich in das Gelächter ein, was die Heiterkeit jener natürlich noch erhöhte.) „Und wenn man auch darauf wetten könnte, daß sich in demselben keine ausländischen Goldrollen mit Napoleondors und Friedrichsdors oder zum mindesten mit holländischen Goldgulden befinden, was man allein schon aus Ihren Gamaschen ersehen kann, so erhält doch Ihr Reisebündel, wenn man zu diesem Bündel eine solche angebliche Verwandte wie zum Beispiel die Generalin Jepantschin hinzufügt, eine ganz andere Bedeutung. Versteht sich, nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschin auch wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht etwa täuschen ... aus Zerstreutheit vielleicht ... was einem Menschen sehr wohl passieren kann, und wenn auch nur – nun, sagen wir, infolge übermäßig entwickelter Phantasie.“
„Oh, da haben Sie wieder die Wahrheit erraten,“ versetzte schnell der blonde junge Mann; „denn ich täusche mich ja auch in der Tat: sie ist eigentlich so gut wie gar nicht verwandt mit mir, so daß es mich damals auch durchaus nicht wunderte, von ihr keine Antwort zu erhalten. Ich hatte sie im Grunde nicht einmal erwartet.“
„Da haben Sie nur das Geld für das Briefporto fortgeworfen. Hm! ... Sie sind wenigstens gutmütig und aufrichtig, das ist lobenswert! Hm! Den General Jepantschin kennen wir, vornehmlich, weil er allbekannt ist. Aber auch den seligen Herrn Pawlischtscheff, der für Sie in der Schweiz bezahlt hat, haben wir einstmals gekannt, wenn es nur Nikolai Andrejewitsch Pawlischtscheff war; denn es gab ihrer zwei Vettern. Der eine lebt heute noch in der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein angesehener Mann, der gute Verbindungen hatte und seinerzeit viertausend Leibeigene besaß, jawohl ...“
„Ganz recht, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtscheff.“
Der junge Mann blickte, nachdem er geantwortet hatte, unbeweglich und forschend den allwissenden Herrn an.
Solche Leute, die alle Welt kennen und alles wissen, findet man zuweilen, oder vielmehr sehr oft sogar, in einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht. Sie wissen buchstäblich alles, der ganze unruhige Forschertrieb ihres Geistes ist unablenkbar nach dieser einen Seite gerichtet, selbstverständlich „in Ermangelung ernsterer Lebensinteressen“, wie sich ein zeitgenössischer Denker ausdrücken würde. Übrigens beschränkt sich diese Allwissenheit nur auf ein ziemlich eng begrenztes Gebiet: welche Anstellung der und der hat, mit wem er bekannt, wie groß sein Vermögen, wo er Gouverneur gewesen, mit wem er verheiratet ist, wieviel er blank und bar mitgeheiratet hat, wer seine Verwandten, Tanten, Nichten, Neffen und Vettern im zweiten und im dritten Grade sind usw., in dieser Art. Größtenteils gehen diese Leute mit zerrissenen Ellenbogen umher und beziehen ein Monatsgehalt von etwa siebzehn Rubeln. Die Betreffenden, von denen sie alle diese Einzelheiten wissen, könnten es sich natürlich gar nicht erklären, aus welchen Gründen sie sich für diese Dinge interessieren; indes kann ich versichern, daß viele von ihnen mit diesen Kenntnissen, die einer ganzen Wissenschaft gleichkommen, sich vollkommen zufrieden geben, in ihrer Selbstachtung bedeutend steigen und mit der Zeit sogar eine höhere geistige Genugtuung darin finden. Und sie ist ja auch wirklich verführerisch, diese Wissenschaft! Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre höchste Befriedigung und ihren höchsten Lebenszweck fanden und einzig durch sie Karriere machten.
Während dieser ganzen Unterhaltung der beiden hatte der brünette junge Mann gegähnt, ziellos zum Fenster hinausgeschaut und voll Ungeduld das Ende der Reise herbeigesehnt. Er war sichtlich zerstreut – geradezu seltsam zerstreut, fast aufgeregt. Sein ganzes Gebaren war etwas sonderbar: er hörte zu und hörte doch nicht zu, sah und sah doch nicht, und seinem Lachen hörte man es an, daß er selbst nicht wußte, worüber er lachte.
„Aber erlauben Sie, mit wem habe ich die Ehre,“ wandte sich plötzlich der Herr mit dem finnigen Gesicht an den blonden jungen Mann mit dem Bündel.
„Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin,“ stellte sich jener sofort mit voller Bereitwilligkeit vor.
„Fürst Myschkin? Lew Nikolajewitsch? Kenn’ ich nicht. Nicht mal gehört,“ meinte der Beamte nachdenklich. „Das heißt, ich rede nicht vom Namen, – der Name ist historisch, in Karamsins Russischer Geschichte kann und muß man ihn finden. Ich rede vielmehr von Ihrer Person, und dann – man hat lange nichts mehr von irgendwelchen Fürsten dieses Namens gehört ... und es ist einem auch keiner mehr zu Gesicht gekommen ...“
„Oh, wie sollten sie auch!“ äußerte sich der Fürst zu dieser Frage. „Außer mir gibt es jetzt überhaupt keine Fürsten Myschkin mehr; ich bin, glaube ich, der letzte. Und was meinen Vater und Großvater anbetrifft, so haben sie ganz zurückgezogen auf ihrem einzigen Gut gelebt. Mein Vater war übrigens Page und hat es in der Armee bloß bis zum Sekondeleutnant gebracht. Nur weiß ich nicht, wie die Generalin Jepantschin von den Fürsten Myschkin abstammt; jedenfalls ist auch sie die Letzte ihres Geschlechts ...“
„Hahaha! Die Letzte ihres Geschlechts! Haha! Nicht schlecht gesagt,“ lachte der Beamte.
Auch der Brünette lachte. Der Blonde aber wunderte sich, daß es ihm gelungen war, einen – übrigens recht schwachen – Witz zu machen.
„Ach so ... Ich habe es ganz gedankenlos gesagt,“ erklärte er schließlich noch immer etwas verwundert.
„I, versteht sich, versteht sich!“ beruhigte ihn der Beamte oder richtiger der Herr mit der Physiognomie eines Beamten.
„Sagen Sie, Fürst, haben Sie dort auch Wissenschaften getrieben, dort bei Ihrem Professor?“ erkundigte sich plötzlich der Brünette.
„Ja ... ich habe manches gelernt ...“
„Ich habe nie was gelernt.“
„Auch ich habe ja nur so einiges ...“ fügte der Fürst fast entschuldigend hinzu. „Infolge meiner Krankheit war es unmöglich, mich systematisch zu unterrichten.“
„Kennen Sie die Rogoshins?“ fragte plötzlich der Brünette.
„Nein, ich kenne sie nicht; die sind mir ganz unbekannt. Ich kenne ja nur sehr wenige Menschen in Rußland. So sind Sie ein Rogoshin?“
„Ja, ich bin ein Rogoshin. Parfen ...“
„Parfen?“ Der Beamte stutzte. „Aber doch nicht etwa von jenen selben Rogoshins ...“ begann er langsam.
„Na ja, gewiß von jenen selben, jenen selben,“ unterbrach ihn mit unhöflicher Gereiztheit der Brünette, der sich, nebenbei bemerkt, kein einziges Mal an den finnigen Beamten wandte, sondern von Anfang an nur zum Fürsten sprach.
„Ja ... wie denn das?“ wunderte sich der Beamte, dessen ganzes Gesicht sich sofort zu einem andächtigen und unterwürfigen, ja sogar aufrichtig erschrockenen Ausdruck zu verziehen begann. „Doch nicht etwa der Sohn desselben Ssemjon Parfenowitsch Rogoshin, des erblichen Ehrenbürgers, der vor einem Monat gestorben ist und ein Kapital von zwei Millionen fünfmalhunderttausend Rubeln hinterlassen hat?“
„So, woher weißt du denn, daß er ein Kapital von zwei Millionen fünfmalhunderttausend Rubeln hinterlassen hat?“ unterbrach ihn der Brünette, auch diesmal ohne ihn eines Blickes zu würdigen. „Da sieh einer den Kerl!“ fuhr er mit einem Kopfnicken nach dessen Seite fort, sich an den Fürsten wendend, „was sie nur davon haben mögen, daß sie sich einem sofort wie die Schwänze anhängen? Aber das stimmt, daß mein Vater gestorben ist und ich erst nach einem Monat aus Pskow beinah ohne Stiebel nach Hause fahre. Weder mein Bruder, der Schuft, noch meine Mutter, weder Geld noch Nachricht – nichts haben sie mir geschickt! Wie einen Hund haben sie mich behandelt! Hab’ dort in Pskow den ganzen Monat im Fieber gelegen.“
„Und jetzt heißt es, ein Milliönchen auf einen Ruck in Empfang zu nehmen! – zum allermindesten! Du lieber Gott!“ Der Beamte hob ganz überwältigt die Hände empor.
„Sagen Sie doch, bitte, was geht das ihn an?“ fragte Rogoshin ärgerlich mit demselben kurzen Kopfnicken nach dessen Seite hin. „Ich werde dir ja doch keine Kopeke davon geben, und wenn du auch mit den Beinen in der Luft auf den Händen vor mir gehen und bitten solltest.“
„Und ich werde, und ich werde gehen!“
„Da sieh einer! Aber ich werde dir ja doch nichts geben, werde dir keine Kopeke geben, tanze meinetwegen eine ganze Woche auf den Händen vor mir herum!“
„Und gib auch nicht! Geschieht mir recht: gib nicht! Ich aber werde tanzen. Werde mein Weib und meine kleinen Kinderchen verlassen und vor dir tanzen! – jawohl! – und vor dir tanzen!“
„Pfui Teufel!“ Der Brünette spie aus. „Vor fünf Wochen fuhr ich ganz wie Sie da,“ wandte er sich an den Fürsten, „nur mit einem Bündel nach Pskow, um mich vor meinem Vater in Sicherheit zu bringen. Fuhr zur Tante. Dort warf mich das Fieber nieder. Er aber starb in meiner Abwesenheit. Am Schlage. Ewiges Angedenken dem Seligen, nur hätte er mich damals sicherlich totgeschlagen. Werden Sie es mir glauben, Fürst: bei Gott! – wär’ ich nicht geflohen, er hätte mich ohne weiteres erschlagen.“
„Sie haben ihn wohl irgendwie geärgert?“ fragte der Fürst, der mit eigentümlichem Interesse den Millionär im Schafpelz betrachtete.
Aber wenn auch eine Million und deren Erbschaft immer beachtenswert zu sein pflegen, so war es doch etwas ganz anderes, das den Fürsten wunderte und interessierte. Auch Rogoshin selbst hatte aus irgendeinem Grunde ersichtlich gern mit dem Fürsten das Gespräch angeknüpft, obschon er eine Unterhaltung offenbar mehr mechanisch als aus innerem Bedürfnis suchte – gewissermaßen mehr aus Zerstreutheit als aus Offenherzigkeit, mehr infolge seiner Erregung und Aufregung ... vielleicht nur, um die Zunge bewegen zu können. Auch schienen seine Reden noch halbe Fieberphantasien zu sein, wenigstens sah man ihm an, daß er innerlich noch immer fieberte. Der Beamte aber wandte keinen Blick von ihm und wagte kaum, zu atmen. Er hing förmlich an seinen Lippen, von denen er jedes Wort gierig auffing und dann wägte, ganz als hätte er einen kostbaren Edelstein gesucht.
„Ja, geärgert – das hat er sich schon ... und es war vielleicht auch der Mühe wert,“ brummte Rogoshin. „Mich aber hat am meisten mein Bruder geärgert. Von meiner Mutter red’ ich nicht, ist eine alte Frau, liest die Heiligenlegenden, sitzt mit alten Weibern zusammen, und wie’s mein Bruder Ssenjka[1] bestimmt, so muß alles geschehen. Warum aber hat er mich nicht zur rechten Zeit benachrichtigt? Na, wir verstehen schon! Es ist ja wahr, ich lag bewußtlos im Fieber, und ein Telegramm haben sie ja wohl auch abgesandt. Aber meine Tante ist grad die Richtige für Telegramme! Sie verbringt schon seit dreißig Jahren ihre Witwenschaft mit Trübsinnspinnen und hockt vom Morgen bis zum Abend mit Kirchenbettlern und Stadtverrückten zusammen. Nonne ist sie grad nicht, jedenfalls aber so was von der Art, nur noch schlimmer. Das Telegramm erschreckte sie natürlich fürchterlich, und da lief sie mit ihm, ohne es zu entsiegeln, geradeswegs aufs Polizeibureau, wo es heute noch liegt. Nur Konjeff, Wassilij Wassiljitsch, rettete mich: schrieb mir alles ganz genau. Von der Sargdecke des Vaters hat mein Bruder nachts heimlich die echt goldenen Quasten abgeschnitten – ‚sie kosteten doch ein Heidengeld‘! Schon allein dafür kann er nach Sibirien wandern, wenn ich nur will; denn das ist doch Kirchendiebstahl. He, du da, alte Vogelscheuche!“ wandte er sich plötzlich an den Beamten. „Wie ist’s nach dem Gesetz: Kirchendiebstahl oder nicht?“
„Kirchendiebstahl! Gewiß Kirchendiebstahl!“ bestätigte dieser sofort mit großem Eifer.
„Und dafür geht’s nach Sibirien?“
„Nach Sibirien, nach Sibirien! Sofort nach Sibirien!“
„Sie glauben alle, daß ich noch todkrank sei,“ fuhr Rogoshin, zum Fürsten gewandt, fort, „ich aber bin heimlich, ohne ein Wort zu sagen, und allerdings noch halb krank, in den Zug gestiegen. Fuhr einfach los! Mach mal auf das Tor, mein bester Ssemjon Ssemjonytsch! Er hat mich bei meinem verstorbenen Vater angeschwärzt, das weiß ich. Daß ich aber mit der Nastassja Filippowna damals meinen Vater gereizt habe, das läßt sich nicht leugnen. Hier war es nun freilich ganz allein meine Schuld. Die Sünde hat’s so gewollt.“
„Mit Nastassja Filippowna? ...“ flüsterte der Beamte ehrfurchtsvoll, als überlege er irgend etwas.
„Kennst sie ja doch nicht!“ schnitt ihm Rogoshin gereizt und ärgerlich das Wort ab.
„Doch, ich kenne sie!“ triumphierte der Beamte.
„Das fehlte noch! Als ob nur eine in der ganzen Welt Nastassja Filippowna hieße! Was du übrigens für ein freches Rindvieh bist! Merk dir das. Wußt’ ich’s doch, daß sich mir sogleich irgend so’n Geschmeiß anhängen würde!“ Er sprach wieder nur zum Fürsten.
„Wer weiß, vielleicht kenne ich aber doch die Richtige!“ Der Beamte ließ sich nicht abfertigen. „Lebedeff soll sie nicht kennen! Sie, Hochwohlgeborenster, geruhen mich zu tadeln, wie aber, wenn ich beweise, was ich sage? Das ist doch dieselbe Nastassja Filippowna, deretwegen Ihr Vater mittels eines Stockes Ihnen die Leviten zu lesen gedachte, und ihr Familienname ist Baraschkoff, also sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art auch eine Fürstin. Sie hat mit einem gewissen Tozkij, Afanassij Iwanowitsch, ein Verhältnis, aber nur mit ihm allein, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, und der dieserhalb mit dem General Jepantschin enge Freundschaft pflegt ...“
„Ah! Also solch ein Vogel bist du!“ Rogoshin wunderte sich denn doch. Er war aufrichtig überrascht. „Pfui Teufel, er scheint sie ja tatsächlich zu kennen.“
„Wen kennt er nicht? Lebedeff kennt alle und alles! Ich, müßt Ihr wissen, Hochwohlgeborenster, habe einmal mit Alexaschka[2] Lichatschewitsch zwei Monate lang juchheit, gleichfalls nach dem Tode des Vaters, kenne daher alle Winkel und Sackgassen; denn schließlich ging er ohne Lebedeff keinen Schritt! Jetzt sitzt er im Schuldturm, damals aber hatte er Gelegenheit, sowohl die Armance und Coralie wie die Fürstin Pazkij und Nastassja Filippowna näher kennen zu lernen ... und noch so manches andere hatte er Gelegenheit, kennen zu lernen!“
„Nastassja Filippowna? Ja, hat sie denn mit Lichatschewitsch ...?“ Rogoshin blickte ihn wütend an. Seine Lippen erbleichten und bebten.
„Nichts, nichts, nichts! Absolut nichts!“ besann sich eilig der Beamte. „Er konnte mit allem Geld n–n–nichts bei ihr erreichen, n–nicht das Geringste! Nein, die war keine Armance! Nur Tozkij allein, wie gesagt. Und abends sitzt sie in der Großen Oper oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Vieles, was die Offiziere so unter sich reden – na, aber auch sie können ihr nichts nachsagen. Nur so: ‚Sieh dort, das ist jene Nastassja Filippowna‘ – das ist alles, was sie sagen können; in betreff des Weiteren aber n–nichts! Denn es ist ja auch nichts zu sagen.“
„Das stimmt alles ganz genau,“ bestätigte Rogoshin düster und stirnrunzelnd. „Das hat mir auch Saljosheff gesagt ... Ich lief damals,“ fuhr er, zum Fürsten gewandt, fort, „in einem Pelzüberrock meines Vaters, den dieser schon vor drei Jahren abgelegt hatte, über den Newskij, da tritt sie aus einem teuren Laden und setzt sich in ihre Equipage. Ich war auf der Stelle wie – wie in Feuer getaucht. Darauf begegne ich Saljosheff – der paßt nicht zu mir, kleidet sich wie ein Friseurgehilfe, Pincenez auf der Nase, wir aber durften beim Seligen nur Schmierstiefel tragen und aßen nichts als Fastenkohl. ‚Nichts für dich,‘ sagt er, ‚die ist so gut wie eine Fürstin, Nastassja Filippowna heißt sie. Sie lebt mit einem gewissen Tozkij, der nicht weiß, wie er sie loswerden soll; denn da er jetzt reif zum Heiraten ist – fünfundfünfzig geworden – so will er eine der ersten Schönheiten Petersburgs ehelichen.‘ Gleichzeitig teilte er mir mit, daß ich sie noch am selben Abend in der Großen Oper sehen könne, sie würde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns aber, zu Lebzeiten des Seligen, sollte jemand versuchen, ins Theater oder gar ins Ballett zu gehen! Kurzen Prozeß hätte er gemacht: einfach erschlagen. Ich aber machte mich dennoch einmal auf, ganz heimlich auf und davon – und es gelang mir auch wirklich, Nastassja Filippowna zu sehen. Die ganze Nacht schlief ich nicht. Am nächsten Morgen gibt mir der Selige zwei fünfprozentige Papiere, zu fünftausend Rubel jedes. ‚Geh,‘ sagte er, ‚verkauf sie: siebentausendfünfhundert bring zu Andrejeffs ins Kontor, bezahle dort, und den Rest von den zehntausend bring mir, ohne dich irgendwo aufzuhalten, unverzüglich zurück. Werde dich hier erwarten.‘ Die Papiere verkaufte ich, nahm das Geld, zu Andrejeffs aber ins Kontor ging ich nicht, sondern begab mich schnurstracks zum englischen Juwelier und kaufte dort fürs ganze Geld ein Paar Ohrringe, in jedem ein Brillant so ungefähr von der Größe einer Haselnuß, blieb noch vierhundert Rubel schuldig – nannte meinen Namen, da trauten sie mir. Mit den Ohrringen ging ich zu Saljosheff: soundso, gehen wir, Freund, zu Nastassja Filippowna. Wir gingen. Was damals unter meinen Füßen war, was vor mir, was neben mir – davon weiß ich nichts mehr, keine Ahnung. Wir traten ohne weiteres in ihren Salon ein, und sie erschien selbst. Ich, das heißt ... ich sagte damals nicht, wie ich heiße, sondern einfach: ‚von Parfen Rogoshin,‘ sagte Saljosheff, ‚zum Andenken an die gestrige Begegnung, wenn Sie es empfangen wollten.‘ Sie öffnete, sah den Schmuck, lächelte. ‚Überbringen Sie,‘ sagte sie, ‚Ihrem Freunde, Herrn Rogoshin, meinen Dank für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit.‘ Nickte und ging. Warum ich damals nicht auf der Stelle starb, begreife ich nicht! Aber wenn ich auch fortging, so tat ich’s doch nur, weil ich dachte: ‚Nun, gleichviel, lebendig kehrst du doch nicht zurück!‘ Am kränkendsten aber schien mir, daß diese Bestie Saljosheff alles gewissermaßen von sich aus gemacht hatte. Ich bin nicht groß von Wuchs, und gekleidet war ich wie ’n Knecht. Ich stehe, schweige, starre sie nur an – denn ich schämte mich doch –, er aber ist nach neuester Mode gekleidet, ist pomadisiert und frisiert, rotwangig, mit ’ner karierten Krawatte – zerfließt nur so, Kratzfuß hier und Bückling dort. Sicher hat sie ihn für den Parfen Rogoshin gehalten, während ich wie ’n Esel dabeistehe! ‚Nun,‘ sagte ich, als wir hinaustraten, ‚daß du mir jetzt nicht hier irgend etwas auch nur zu denken wagst, verstanden!‘ Er lachte. ‚Wie aber wirst du denn jetzt Ssemjon Parfenowitsch‘ – also meinem Vater – ‚Rechenschaft ablegen?‘ Ich muß gestehen, daß ich damals einfach ins Wasser wollte, ohne nach Hause zurückzukehren, dachte aber: ‚Jetzt ist doch alles gleich,‘ und ging wie ein Verfluchter heim.“
Der Beamte stöhnte überwältigt „Ach!“ und „Oh!“, verrenkte sein Gesicht und schüttelte sich, als wenn ihn Frostschauer durchrieselten. „Und dabei müssen Sie bedenken, daß der Selige imstande war, einen – von zehntausend ganz zu schweigen – schon wegen gewöhnlicher zehn Rubel ins Jenseits zu befördern!“ teilte er dem Fürsten wichtig mit mehrfachem Kopfnicken mit.
Interessiert betrachtete der Fürst Rogoshin, der in diesem Augenblick noch bleicher erschien.
„Ins Jenseits zu befördern!“ äffte ihn Rogoshin ärgerlich nach. „Was weißt du denn davon? ... Im Augenblick hatte er alles erfahren,“ erzählte er dann dem Fürsten weiter; „denn Saljosheff hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als die ganze Geschichte jedem ersten besten auf die Nase zu binden. Mein Vater führte mich ins Obergeschoß und schloß mich dort in einem Zimmer ein, in dem er mich dann eine Stunde lang belehrte. ‚Jetzt bereite ich dich nur vor,‘ sagte er, ‚am Abend aber werde ich wiederkommen und in noch ganz anderer Weise mit dir reden.‘ Was glauben Sie wohl? – Der Alte fährt zu Nastassja Filippowna, verneigt sich vor ihr bis zur Erde, fleht und weint, bis sie ihm den Schmuck bringt und hinwirft: ‚Da hast du deine Ohrringe, Alter,‘ sagt sie, ‚sie sind mir jetzt zehnmal teurer, wenn er sie mit solchen Gefahren erstanden hat. Grüß mir,‘ sagt sie, ‚grüß mir Parfen Ssemjonytsch und sag’ ihm meinen Dank.‘ Nun, ich aber hatte inzwischen mit meiner Mutter Segen von Sserjosha Protuschin zwanzig Rubel geborgt und begab mich sofort per Bahn nach Pskow, kam aber schon im Fieber dort an. Die alten Weiber begannen mich mit dem Vorlesen ihrer Heiligengeschichten zu langweilen, während ich halb betrunken dasaß. So ging ich denn und suchte für mein Letztes die Schenken heim und lag dann bewußtlos die ganze Nacht auf der Straße. Da hatte ich mich bis zum Morgen gründlich erkältet. Ein Wunder, daß ich überhaupt noch zu mir kam.“
„Na! Na! Jetzt wird Nastassja Filippowna ein anderes Liedchen singen!“ kicherte händereibend der Beamte. „Was Ohrringe! Jetzt werden wir sie für deine Ohrringe schon entschädigen ...“
„Hör’, wenn du auch nur ein einziges Mal, gleichviel mit welchem Wort, Nastassja Filippowna erwähnst, so werde ich dich, bei Gott, einfach zu Brei schlagen, und wenn du auch hundertmal mit Lichatschewitsch juchheit hast!“ rief knirschend Rogoshin, der plötzlich mit eisernem Griff des anderen Handgelenk gepackt hatte.
„Nur zu! Schlägst du mich, so wirst du mich nicht fortjagen. Schlag nur. Gerade damit erwirbst du dir meine Freundschaft. Hast du mich erst einmal durchgehauen, so hast du mich damit auch erworben ... Ah, da sind wir ja schon angekommen!“
Der Zug fuhr gerade in diesem Augenblick in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoshin sich nach seinen Worten ganz heimlich aufgemacht hatte, wurde er doch von einer ganzen Schar Bekannter erwartet. Sobald sie ihn erblickt hatten, schrien sie ihm zu und schwenkten die Mützen.
„Sieh mal, auch Saljosheff ist hier!“ brummte Rogoshin, indem er sie mit triumphierendem und gleichwohl boshaftem Lächeln musterte, und plötzlich wandte er sich an den Fürsten. „Ich weiß nicht, weshalb ich dich liebgewonnen hab’, Fürst. Vielleicht, weil ich dich in einer solchen Stunde kennen gelernt habe, – aber ich habe ja auch diesen da kennen gelernt“ (er wies auf Lebedeff), „ohne ihn dabei liebzugewinnen. Komm zu mir, Fürst. Diese Stiebletten wollen wir dir schon abziehen, werde dir einen Marderpelz kaufen, den schönsten, den es nur gibt, werde dir einen Frack machen lassen vom teuersten Stoff, dazu eine weiße Weste oder was du sonst willst, die Taschen stopfe ich dir voll mit Geld und – fahren wir dann zu Nastassja Filippowna! Kommst du?“
„So hören Sie doch, Fürst Lew Nikolajewitsch!“ mischte sich Lebedeff eifrig dazwischen. „Greifen Sie zu, oh, greifen Sie zu! ...“
Fürst Myschkin erhob sich, bot Rogoshin höflich die Hand und sagte herzlich:
„Ich werde mit dem größten Vergnügen zu Ihnen kommen, und ich danke Ihnen dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Vielleicht werde ich sogar heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn, ich sage es Ihnen aufrichtig, auch Sie haben mir sehr gefallen – namentlich, als Sie das von den Ohrringen erzählten. Ja sogar vor den Ohrringen gefielen Sie mir bereits, obschon Sie ein düsteres Gesicht haben. Auch danke ich Ihnen für die Kleider und den Pelz, die Sie mir schenken wollen, ich werde bald beides nötig haben. Geld jedoch habe ich im gegenwärtigen Augenblick fast keine Kopeke mehr, doch ...“
„Oh, Geld wirst du von mir bekommen, soviel du nur willst, zum Abend wird es schon da sein, komme nur zu mir!“
„Oh, Geld wird schon da sein,“ griff der Beamte sofort auf, „zum Abend, noch vor dem Abend wird es da sein!“
„Aber wie steht’s mit den Frauen, Fürst? Sind Sie ein großer Liebhaber des weiblichen Geschlechts? – das müssen Sie mir im voraus sagen.“
„Ich? N–n–nein. Ich bin ja ... Sie wissen vielleicht nicht, daß ich ... daß ich infolge meiner Krankheit die Frauen überhaupt noch nicht kenne.“
„Nun, wenn’s so ist ...“ rief Rogoshin aus, „dann bist du ja, Fürst, ein ganz armer Heiliger! Solche, wie du, hat Gott lieb.“
„Gewiß! Gerade solche hat Gott der Herr lieb!“ echote der Beamte.
„Und du, Schmarotzer, schieb mir mal nach!“ wandte sich Rogoshin an Lebedeff.
Sie verließen alle drei das Kupee.
Lebedeff hatte nun doch erreicht, was er wollte. Die lärmende Schar entfernte sich bald in der Richtung nach dem Wosnessenskij Prospekt. Der Fürst dagegen mußte den Weg zur Liteinaja einschlagen. Der Morgen war feucht und naßkalt. Fürst Myschkin erkundigte sich bei Vorübergehenden nach den Entfernungen: bis zu seinem Ziel waren noch etwa drei Werst, und so entschloß er sich, eine Droschke zu nehmen.