IV.
„Ein Messer, ein Messer!“ wiederholte Stawrogin immer wieder in unstillbarem Haß, während er mit großen Schritten in den Straßenschlamm und die Regenpfützen trat, ohne auf den Weg zu achten. Und plötzlich, auf Augenblicke, erfaßte ihn eine unbändige Lust zu lachen, laut und toll; aber aus irgendeinem Grunde bezwang er sich und unterdrückte das Lachen. Er kam erst wieder zu sich, als er schon auf der Brücke war, gerade an der Stelle, wo ihn vorhin Fedjka angeredet hatte. Und dieser selbe Fedjka wartete hier auch jetzt, zog, als er Stawrogin erblickte, die Mütze, grinste heiter, und schloß sich ihm, keck und lustig losplaudernd, wieder ohne Bedenken an. Stawrogin ging zunächst unverändert weiter, ja, er achtete gar nicht darauf, vernahm nicht einmal, was der Strolch, der sich ihm wieder zugesellt hatte, da schwatzte. Auf einmal fiel ihm aber ein – und er wunderte sich darüber – daß ihm dieser Zuchthäusler gerade in der Zeit gar nicht in den Sinn gekommen war, als er selbst innerlich in einemfort „Ein Messer, ein Messer!“ gemurmelt hatte.
Und plötzlich packte er ihn blitzschnell am Kragen und riß ihn aus aller Kraft mit der ganzen in ihm angesammelten Wut zu Boden, daß er nur so auf die Brücke krachte. Einen Augenblick gedachte dieser wohl sich zu wehren, sagte sich aber sofort, daß er gegen einen solchen Gegner, der ihm zudem noch so überraschend zuvorgekommen war, ungefähr wie ein Strohhälmchen unmöglich aufkommen konnte. Und so verharrte er denn, halb kniend zu Boden gedrückt, die Ellenbogen auf den Rücken gerissen, wie ihn Stawrogin hielt, lautlos und reglos, sogar ohne den geringsten Widerstand auch nur zu versuchen, und wartete ruhig in schlauer Klugheit ab, was nun kommen werde. Ja, wie es schien, glaubte er überhaupt nicht an eine ernste Gefahr für sich.
Und er täuschte sich nicht. Stawrogin hatte sich zwar schon mit der linken Hand das Halstuch abgerissen, um seinen Gefangenen zu binden, doch plötzlich, Gott weiß weshalb, gab er es auf und stieß ihn nur von sich. Im Augenblick stand Fedjka auf den Füßen, wandte sich um, und ein kurzes, breites Messer blitzte in seiner Hand.
„Fort das Messer! Steck es sofort ein! Sofort!“ befahl Stawrogin mit ungeduldiger Geste – und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.
Nicolai Wszewolodowitsch ging darauf wieder stumm und ohne sich umzusehen weiter: aber der hartnäckige Verbrecher folgte ihm doch – diesmal freilich ohne zu schwatzen, vielmehr in respektvoller Entfernung, einen ganzen Schritt hinter ihm. So gingen sie über die ganze Brücke und kamen ans Ufer, wo Stawrogin diesmal nach links bog, in eine lange, öde Gasse, denn das war ein näherer Weg zur inneren Stadt, als der über die Bogojawlenskstraße.
„Ist es wahr, man sagt, du hättest hier in der Umgegend in diesen Tagen eine Kirche geplündert?“ fragte Stawrogin plötzlich.
„Gnädiger Herr, eigentlich ging ich zuerst nur hin, um zu beten,“ antwortete Fedjka gesetzt und höflich, und als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre. Ja, nicht nur gesetzt, sondern geradezu würdevoll sagte er es, und von der früheren „freundschaftlichen“ Familiarität war auch nicht eine Spur mehr zu bemerken. Er war in diesem Augenblick ganz wie ein ernster, sachlicher Mensch, den man grundlos gekränkt hat, der aber auch Kränkungen zu vergessen versteht.
„Doch wie mich da unser Herrgott hingeführt hatte,“ fuhr er fort, „ach, du himmlisches Gnadenkraut, denke ich! Nur von wegen meiner Verwaistheit ist ja das alles geschehen, denn in unserem Leben geht’s nu mal gar nich ohne Unterstützung. Und sehen Sie, glauben Sie mir, gnädiger Herr, zu seinem eigenen Nachteil hat der Herr mich hingeführt: hab’ für die Sachen im ganzen nur zwölf Rubelchen bekommen. Des heiligen Nicolai silbernes Kinnband aber ist fast auf den Kauf gegangen: semiliert, sagte man.“
„Du hast vorher den Wächter erstochen?“
„Nee, das heißt, wir haben’s ja beide gemacht, der Wächter und ich, und dann erst, am Morgen, am Flüßchen, kam’s zum Streit, wer den Sack tragen sollte. Da sündigte ich, erleichterte ihn ein klein wenig.“
„Erstich noch, stiehl noch!“
„Ganz dasselbe rät mir auch Pjotr Stepanowitsch, mit genau denselben Worten, da er mir selber nie nich was geben will, denn er ist halt geizig und hartherzig in Fragen wie Unterstützung. Außerdem, daß er an den himmlischen Schöpfer, der uns doch allesamt aus einem Erdkloß gemacht hat, nich für eine Kopeke glaubt. Er sagt, alles hat die Natur gemacht, sogar jedes letzte Tier, und überdies begreift er schon ganz und gar nich, daß uns in unserem Leben ohne milde Unterstützung überhaupt nichts möglich ist. Fängst du ihm was zu erklären an, glotzt er wie ein Schaf ins Wasser: nur so wundern kannst du dich über ihn. Aber werden Sie es wohl glauben, gnädiger Herr, beim Hauptmann Lebädkin beispielsweise, wo Sie soeben besuchten, da kam’s vor, als er noch vor Ihnen bei Filippoff wohnte, daß die Tür die ganze Nacht unverschlossen steht, schläft selbst vollgesoffen wie ein Fisch, und das Geld, das kullert nur man so aus allen Taschen auf die Diele. ’s kam vor, daß man’s mit eigenen leibhaftigen Augen sah, denn nach unserer Meinung, daß man ohne milde Unterstützung was könnte, daran ist schon gar nich zu denken ...“
„Wie das, mit eigenen Augen? Bist du etwa in der Nacht hingegangen?“
„Vielleicht bin ich auch hingegangen, nur weiß das niemand nich.“
„Warum hast du ihn denn nicht erstochen?“
„Hab erst nachgezählt und mich dann bedacht. So wußte ich denn, daß ich immer hundertfünfzig Rubel rausnehmen kann, aber warum soll ich denn das, wenn ich ganze tausendfünfhundert kriegen kann, wenn ich nur eben jetzt ein wenig warte? Denn Hauptmann Lebädkin hat immer sehr auf Sie gebaut, hab’s mit meinen eigenen Ohren gehört, wenn er voll war, und es gibt hier überhaupt keine Schenke mehr, wo er nich dasselbe genau so wiederholt hat. Das hab ich auch noch von anderen gehört, und so begann ich nun gleichfalls, meine ganze Hoffnung auf den gnädigen Herrn zu setzen. Ich bin wirklich zu Ihnen, gnädiger Herr, wie zu meinem Vater oder leiblichen Bruder, denn Pjotr Stepanowitsch wird darüber niemals was von mir zu hören bekommen und auch sonst keine einzige Seele. Also deshalb meine ich, der gnädige Herr könnte mir doch wirklich jetzt mit drei Rubelchen wohlwollen? Wenn der gnädige Herr mir nur somit klar zu verstehen geben wollte, damit ich dann die Wahrheit weiß, denn für unsereins ist’s nun einmal ohne milde Unterstützung ganz und gar unmöglich.“
Da lachte Stawrogin laut auf, zog aus der Tasche sein Portemonnaie, in dem an fünfzig Rubel in kleineren Scheinen waren, und warf einen Schein aus dem Paket ihm zu, dann noch einen, dann einen dritten, vierten, fünften. Fedjka fing sie in der Luft auf, sprang hin und her, die Banknoten flatterten, fielen in den Schmutz, immer gieriger griff er nach ihnen, und immer erregter stieß er dabei ein kurzes „Äch, Äch“ hervor. Schließlich schleuderte ihm Stawrogin aus voller Faust das ganze Geldpaket zu und bog, immer noch lachend, in eine Quergasse ein – diesmal allein. Der Strolch blieb zurück, rutschte fast auf den Knien im Schmutz herum und suchte nach den vom Wind verstreuten Geldscheinen, die in den Pfützen versanken, und noch eine ganze Stunde lang konnte man hören, wie er in der Dunkelheit suchend sein kurzes „Äch, Äch!“ hervorstieß.