509.
Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch „der Gute“ im großen Gesamtschauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte damit recht.
An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit, zu sagen, „das Gute und das Schöne sind eins“; fügt er gar noch hinzu, „auch das Wahre“, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich.
Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.
510.
Was ist tragisch? – Ich habe zu wiederholten Malen den Finger auf das große Mißverständnis des Aristoteles gelegt, als er in zwei deprimierenden Affekten, im Schrecken und im Mitleiden, die tragischen Affekte zu erkennen glaubte. Hätte er recht, so wäre die Tragödie eine lebensgefährliche Kunst: man müßte vor ihr wie vor etwas Gemeinschädlichem und Anrüchigem warnen. Die Kunst, sonst das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben, würde hier, im Dienste einer Abwärtsbewegung, gleichsam als Dienerin des Pessimismus gesundheitsschädlich (– denn daß man durch Erregung dieser Affekte sich von ihnen „purgiert“, wie Aristoteles zu glauben scheint, ist einfach nicht wahr). Etwas, das habituell Schrecken oder Mitleid erregt, desorganisiert, schwächt, entmutigt: – und gesetzt, Schopenhauer behielte recht, daß man der Tragödie die Resignation zu entnehmen habe (das heißt eine sanfte Verzichtleistung auf Glück, auf Hoffnung, auf Willen zum Leben), so wäre hiermit eine Kunst konzipiert, in der die Kunst sich selbst verneint. Tragödie bedeutete dann einen Auflösungsprozeß: der Instinkt des Lebens sich im Instinkt der Kunst selbst zerstörend. Christentum, Nihilismus, tragische Kunst, physiologische décadence: das hielte sich an den Händen, das käme zur selben Stunde zum Übergewicht, das triebe sich gegenseitig vorwärts – abwärts.... Tragödie wäre ein Symptom des Verfalls.
Man kann diese Theorie in der kaltblütigsten Weise widerlegen: nämlich, indem man vermöge des Dynamometers die Wirkung einer tragischen Emotion mißt. Und man bekommt als Ergebnis, was zuletzt nur die absolute Verlogenheit eines Systematikers verkennen kann: – daß die Tragödie ein tonicum ist. Wenn Schopenhauer hier nicht begreifen wollte, wenn er die Gesamtdepression als tragischen Zustand ansetzt, wenn er den Griechen (– die zu seinem Verdruß nicht „resignierten“....) zu verstehen gab, sie hätten sich nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti pris, Logik des Systems, Falschmünzerei des Systematikers: eine jener schlimmen Falschmünzereien, welche Schopenhauern Schritt für Schritt seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntnis und ungefähr alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden hat).
511.
Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, zum Beispiel als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist.
Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk – –
512.
Der Nihilismus der Artisten. – Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; zynisch mit ihren Sonnenaufgängen. Wir sind feindselig gegen Rührungen. Wir flüchten dorthin, wo die Natur unsre Sinne und unsre Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden; – und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht mehr uns an „Gut und Böse“ erinnert. Unsre moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalismus der Sinne und der Kräfte. Das Leben ohne Güte.
Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse.
Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt.... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen und Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.
513.
Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade, – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute „gesund“ genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind.... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche: Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinneshalluzinationen, von Suggestionsraffinements mit sich bringen wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich.... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nervenexzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat.... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden.
Wie man heute „Genie“ als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestivkraft, – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen „heute“, und nicht gegen die „Künstler“.
Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens.... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt).... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet: – der Christ.